Von Mythen und Märchen

Mythos und Märchen wurden zu allen Zeiten vom Künstler geschätzt. In ihnen verdichtet sich Menschheitswissen. Die ewigen Fragen, die sich jede Generation neu stellt und zu beantworten sucht (Warum bin ich überhaupt da? Was für einen Sinn macht meine Existenz? Woher komme ich und wohin gehe ich?), wurden in Mythos und Märchen schon immer thematisiert. Daher bilden sie für viele Künstler einen ebenso anregenden wie fruchtbaren Nährboden für die Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen.

Auch für Simona Pries, gelernte Bildhauerin und Architektin, deren große Installation, die sie vor vier Jahren im Celler Schloss zeigte, sich explizit auf das Märchen m „Dornröschen“ der Brüder Grimm bezieht. Pries präsentiert in ihr drei identische Gehäuse aus transluzidem Gewebe. Ihre konstruktive Form erinnert an die klaren Module der Minimal Art. In jedem Gehäuse ist die gleiche Liege sichtbar, wie wir sie aus Krankenhäusern kennen. Die Liegen rufen nicht nur den hundertjährigen Schlaf der Prinzessin ins Gedächtnis, sondern auch die Hinfälligkeit und Endlichkeit des Menschen. Aus vier Lautsprechern hören wir die Geschichte vom „Dornröschen“, während die Liegen aus farbigem Licht wie aus einem lange vergessenen Traum auftauchen. Er erinnert uns daran, dass unser Leben gefahrvoll ist, voller Schmerzen und Verletzungen, Prüfungen und Krisen. Dass aber jede Krise auch die Chance bereithält, an ihr zu wachsen. Welche Wende wir unserem Leben in „Gefahr und höchster Not“ zu geben vermögen, allein darauf kommt es an.

In diesem Sinne spricht solche Kunst gleichermaßen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Immer wieder begegnen wir im Werk von Simona Pries solchen Verweisen auf eine „zeitlose“ conditio humana. Auch in der Plastik „Milchmädchenrechnung“ (2007), die in Salder als Solitär gezeigt wird, indes Teil einer Werkserie ist, zu der noch „Rapunzelturm“ und „Persephone“ gehören. Allein den Titeln der Arbeiten hinterher zu hören, macht deutlich, wie sehr wir mit ihnen erneut in den Raum von Mythos, Märchen und Fabel eintreten. Die „Milchmädchenrechnung“ zeigt einen Turm, aus Winkelsteinen gefügt, wie sie jedes beliebige Bauhaus für den Heimwerker bereithält. Er macht klar, wie stark Simona Pries mit ihrem Werk in der künstlerischen Tradition des objet trouvé und der arte povera steht. Arme und alltägliche Materialien wandern in ihre Kunst und erleben dort eine sie belebende Transformation. Eine Verwandlung, die das Unbedeutende bedeutend und das Banale schön macht.

Für Mondrian war die Horizontale die Welt und die Vertikale der Mensch. Er gehört zu jenen Künstlern, mit deren Werk sich die Kunst von Simona Pries schon immer auseinander gesetzt hat. Für sie ist der Konstruktivismus indes kein Endzweck, sondern Mittel zum Zweck. Ihr perfekt gegliederter Turm, von weißer Farbe gestisch übergossen, will keine exemplarische Form sein, sondern vom Menschen erzählen. Und das gelingt Pries hervorragend. Der Turm erzählt von Rechnungen, die nicht aufgehen, von Träumen, die zerbrechen, von „Verlorene(n) Illusionen“, wie sie Honoré de Balzac geschildert hat. Hinter seiner Gestalt taucht wie von selbst ein Gegenbild auf: Jan Vermeers „Dienstmagd mit Milchkrug“ (1658/60), die ruhig und konzentriert Milch in eine Schale gießt, ein malerisches Monument häuslicher Verrichtung, wo alles an seinem Platz ist. Ausdruck einer harmonisch geordneten Welt.

Die einer begrenzten und begrenzenden Gegenwart enthobene Verfasstheit des Menschen interessiert Simona Pries als Thema ihrer Kunst nicht weniger als das Motiv der Schönheit. Sie rettet sie in die Gegenwart durch die Art und Weise, wie sie in ihrem Werk banale Stoffe einem Zauber unterwirft, durch den sie am Ende nicht mehr dieselben sind. Ganz so wie auch im Märchen der Frosch, durch liebenden Blick berührt, zum König wird, werden die alltäglichen Materialien ästhetisch geadelt durch Konzept, Kontext und Konstruktion. Dabei schafft die Zusammenziehung von Gegensätzen eine formale Spannung, die es auszugleichen gilt. Wie in ihren Wandarbeiten „o. T.“ (2007/08) im Salon Salder. Brutaler Beton verbindet sich mit zartem Glas, ödes Grau mit sinnlicher Farbe. Und wenn die Künstlerin auf diese Weise antagonistische Stoffe in ein gelingendes Gleichgewicht bringt, erzählt sie einmal mehr von einem großen Menschheitstraum.

 

Michael Stoeber

milchmädchenrechnung / Material: Betonwinkelsteine, Farbe / Masse: 250 x 46,5 x 46,5 cm / 2007

milchmädchenrechnung
Betonwinkelsteine, Farbe, 250 x 46,5 x 46,5 cm, 2007