Was unterscheidet Künstler von anderen Menschen? Vielleicht ist es vor allem ihr anderer Blick auf die Welt, etwas, das auch Kinder anfangs noch haben – dieses unverbrauchte, noch nicht abgeklärte Sehen des scheinbar Selbstverständlichen und ihr ständiges und beharrliches Fragen nach dem Wie und Warum. Simona Pries ist solch eine seltene Künstlerpersönlichkeit. Ihren Arbeiten fehlt der Zynismus, der den Blick verstellt auf das Ungesehene, das Poetische und das Ursprüngliche. Ihre Haltung ist eine staunende geblieben, und das macht ihre Arbeiten zu etwas ganz Besonderem.

Simona Pries verwendet Beton, Glas und Spiegel, Farbe und auf der Straße Gefundenes sowie verschiedenste Naturmaterialien – bei dieser Beschreibung würde man eine Welt des Durcheinanders oder etwas Chaotisches und zumindest Ungeordnetes erwarten. Viele Künstler heute spiegeln in ihren Arbeiten unsere immer unübersichtlichere und kompliziertere Welt und überlassen uns dann diesem Chaos.

Bei Simona Pries ist das Gegenteil der Fall. In ihrer Welt gibt es nichts Grobes. Rauher Beton wird erstaunlicherweise zu etwas Zartem, Sinnlichen und Subtilen. Gesplittertes Glas wird zur Landschaft, zum Schriftzug, zur Silhouette. Die Künstlerin transformiert die Materialien wie eine Alchimistin, die aus Blei am Ende doch Gold machen kann. Das eigentlich hässlich-funktionale Untergestell eines alten Schreibtischstuhls wird mit Glas kombiniert zu einer klaren, raumhaltigen und unglaublich einleuchtenden Skulptur, so, als hätte dieses Untergestell immer nur darauf gewartet, aus seiner profanen Rolle befreit zu werden.

Wichtig für das Verständnis solcher Arbeiten bleibt die Beobachtung, dass immer die Gegensätze erhalten bleiben: Die Objekte und Installationen halten die Waage zwischen dem Rauhen und dem Glatten, dem Harten und dem Weichen, dem Offenen und der Kontrolle. Es sind Versuche über Balance, und als Betrachter spürt man intuitiv, dass damit mehr ausgesagt ist als nur ein Form-Experiment. Die Arbeiten können uns die Fragilität der Dinge und die allgegenwärtige Gefahr der Zerstörung spürbar werden lassen.

Simona Pries sagt selbst, dass bestimmte Grundlagen der Minimal Art, aber auch der Arte Povera in ihr Konzept eingeflossen sind. Auch wenn das kunsthistorisch ihre korrekten Quellen beschreibt, so beschreibt es nicht, worum es in ihren Arbeiten wirklich geht: Wichtiger als die historischen Bezüge erscheint es mir, welche philosophische Haltung ein Künstler mit seiner Arbeit heute vertritt. „Zum Werksein gehört die Aufstellung einer Welt“ sagt Martin Heidegger in seiner bekannten Schrift „Der Ursprung des Kunstwerks“. Das Werk, um das es Simona Pries geht, beginnt ebenfalls in einem Akt des Aufstellens, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Sie stellt uns Dinge entgegen, Dinge, die sie verwandelt hat, deren Bedeutung transformiert wurde in etwas Neues, etwas Unerwartetes und auch etwas Psychologisches.

Nur wenigen Künstlern gelingt es, uns als Betrachter in eine andere Welt eintreten zu lassen, eine Welt, in der wir uns selber fragen müssen, wie wir mit den Dingen und auch mit uns selbst umgehen wollen. Ob wir das Grelle, das Laute und das Offensichtliche suchen oder ob wir uns einlassen wollen auf eine Subtilität und Sensibilität, die auf anderem Wege in die Veränderung führt. Je lauter heute eine "politische" Kunst verlangt wird, desto mehr fehlt ein breiterer Begriff von Politik. Denn die wichtigste Welt entsteht im Kopf, und die Künstler sind die Vordenker solcher Welten.

 

Dr. Ingrid Pfeiffer
Schirn Kunsthalle Frankfurt
4. Juni 2012